"Worte sind wild, frei, unverantwortlich und nicht zu lehren. Natürlich kann man sie einfangen, einsortieren und sie in alphabetischer Reihenfolge in Wörterbücher stecken. Aber dort leben sie nicht."

Mittwoch, 12. Mai 2010

Der Panther

Wie ein Metronom, tick-tack, tick-tack. Theoretisch eine beruhigende Gleichmäßigkeit. Doch das stetige Ticken wird lauter. Das stetige Ticken wird schneller. Stiche im Ohr, Stiche im Kopf, Stiche ins Herz, TICK-TACK, TICK-TACK, TICK-TACK.
Du willst weg, raus, fliehen, schreien, kreischen, toben, stampfen, brüllen, fluchen, zerstören, zerfetzen, zerfleischen, verletzen, foltern, skalpieren, töten schlachten, massakrieren, raus, raus, raus, RAUS!

Stumm.

Abgeprallt wie ein Flummi an der Wand einer Gummizelle. Wie ein Insekt am Fenster. Aufgestanden, aufgestanden, wieder aufgestanden bis die Erschöpfung dich zur Ruhe zwang. Langsam sickert die Erkenntnis durch, dass du in einer hermetisch abgeriegelten Zelle sitzt. In einer Einbahnstraße; langsam läuft Wasser herein und steigt stetig bis es dich irgendwann bedecken wird, bis strampeln und schwimmen keinen Sinn mehr macht, weil die kalte Masse auch die letzte Luft verdrängt hat und dich mit stiller Grausamkeit ertrinken lässt.

Samstag, 8. Mai 2010

Frühling

Einzig und allein die Wintersonne an einem späten Nachmittag vermochte es, dem Wald diese Stimmung einzuhauchen. Die kalte Jahreszeit lag in ihren letzten Zügen, die ersten Pflanzen hatten sich bereits durch den Boden ihren Weg an das Licht erkämpft. An den jungen Bäumen spross zartes grün, die älteren Bäume folgten diesem Beispiel zögerlich. Das gelblich warme Licht erschuf eine idyllische Stimmung, ein wenig märchenhaft, ein wenig kitschig, beruhigend und voller Vorfreude auf den kommenden Frühling. Vereinzelt konnte man Maiglöckchen zwischen dem Grün auf dem Boden ausmachen.
Der weiche Waldboden des ihr so bekannten Weges gab sanft unter ihren verträumten Schritten nach. Vielleicht sangen Vögel, sie wusste es nicht. Sie hörte nichts als die viel zu laute Musik, mit der sie sich von ihrem Player beschallen ließ.
Ihre Gedanken kreisten umher, wie ein wilder Schwarm Vögel. Der Fluss neben ihr zog bedächtig an ihr vorbei. Das Wasser war bräunlich grün, wie das so vieler Flüsse. Die Bäume des anderen Ufers spiegelten sich als schwammige Kontraste darin.
Weit und breit war niemand zu sehen. Sie war am liebsten alleine hier, auch wenn das kaum möglich war, da die üblichen Verdächtigen, Hundebesitzer, Familien und Jogger, die dieses Stück Wald ebenfalls für sich beanspruchten. Dieses war einer dieser besonderen Tage, an dem sie wirklich ungestört spazieren konnte. Eigentlich hatte sie kein Problem mit anderen Menschen hier, doch schaffte sie es dann nicht, sich von ihren Gedanken verschlucken zu lassen.
Vor ihrem Fuße krabbelte ein Käfer. Sie verlängerte ihren Schritt, um ihn nicht zu zerquetschen.
Die Luft roch gut, warm, nach Natur. Und nach dem Rauch ihrer Zigarette. Der einzige Geruch, der die Stadt hinter den Bäumen erahnen ließ.
Im Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Sie drehte ihren Kopf. Am anderen Flussufer, auf ihrer Höhe, lief ein schwarzes Pferd. Sie blinzelte. Sah nochmal hin. Das Pferd war immer noch da. Sie machte ihre Musik aus. Neben ihm trottete ein großer Wolf. Sie sah sich um. Niemand war zu sehen, sie war alleine. Weit und breit keine Menschenseele. Sie beobachtete die beiden Tiere, als sie weiter lief. Das Pferd war lackschwarz, das Fell glänzte wie poliert. Der Kopf war perfekt geformt, die Ohren standen aufrecht nach vorne. Der muskulöse, leicht geschwungene Hals wurde von einer welligen Mähne veredelt. Dieses Pferd war in jeder Hinsicht perfekt.
Es verwunderte sie vor allem, dass der Wolf es nicht zu stören schien, im Gegenteil. Wäre ihr der Gedanke nicht so absurd vorgekommen, hätte sie geschworen, dass die beiden zusammen unterwegs waren. Der Wolf hatte silbernes Fell, das vor allem im Kontrast zum Pferd fast weiß wirkte. Er hatte einen leichtfüßigen Gang. Die beiden wirkten so harmonisch und gleichzeitig so fehl am Platze, dass es ihr den Atem verschlug. Sie blieb erneut stehen, um zu sehen, wohin die beiden Gestalten ziehen würden. Doch auch sie blieben stehen. Das Pferd drehte den Kopf und sah sie an.
Es war als könnte sein Blick in ihr Herz sehen, tief in ihr Innersten greifen und dort etwas entdecken, was sie zu verstecken suchte. Plötzlich bäumte sich das Pferd auf und die Verbindung riss beinahe schmerzhaft. Das edle Tier galoppierte in den Wald hinein. Sie wollte schreien, es aufhalten, doch sie konnte nicht. Dann sah sie, wie es umdrehte und mit kräftigen, ausgreifenden Bewegungen auf den Fluß zu stürmte. Sie riss ihre Augen vor Entsetzen auf, der Fluss war zu breit, selbst ausgebildete Springpferde schafften solche Sprünge nicht.
Mit unfassbarer Spannung drückte sich das Pferd vom Boden ab. Die Mähne und der Schweif flossen durch die Luft als seien sie in Wasser getaucht. Fast vorsichtig setzten die Vorderhufe neben ihr auf, geräuschlos folgten die Hinterhufe.
Dann stand es vor ihr, in all seiner Perfektion. Sein Atem war ruhig, als hätte der Sprung über den Fluss es keine Kraft gekostet.
Sie streckte die Hand aus. Sie wollte den Kopf des Pferdes berühren, das wunderbare Fell spüren, die weichen Nüstern. Sie spürte die warme Luft, doch bevor sie das Pferd anfassen konnte, warf der Wolf den Kopf in den Nacken und ließ ein schauriges Heulen erklingen. Ein bittersüßer Schauer lief ihr über den Rücken.
Wieder traf sich ihr Blick mit dem des Pferdes und wieder hatte sie das Gefühl, es würde sie durchleuchten. Es war, als würde es sich durch ihre Seele tasten, jeden Winkel erforschen. Es berührte ihre Erinnerungen, ihre Gefühle, ihre Persönlichkeit, jedes noch so kleine und intime Detail, das sie so gut vergraben hatte. Es war, als läge sie vollkommen offen vor diesem sonderbaren Wesen. Sie fühlte sich unendlich verletzlich und doch durchströmte sie gleichzeitig eine Wärme, die sie noch nie gespürt hatte. Tief in ihr keimte etwas auf, wie eine zarte Pflanze. Mut, gepaart mit Hoffnung, begleitet von durchdringendem Vertrauen und der Gewissheit, dass alles gut werden würde. Egal wie, egal wann.
Plötzlich brach die Verbindung ab, die Wärme verschwand, der Geist, der sie eben noch erfüllt hatte und auf ihrer Seele gelegen hatte, hinterließ ein kaltes Loch. Ihr Blick verschwamm. Sie nahm wahr, wie das Pferd sich auf bäumte, dann wurde es schwarz vor ihren Augen und sie sackte in sich zusammen.

Das erste, was sie wieder fühlte, war der Keim in ihr. Das Pferd hatte sie nicht alleine gelassen. Es hatte ihr dieses Gefühl eingepflanzt. Sie spürte die Waldluft durch ihre Lungen ziehen. Sie spürte Hände auf ihrem Körper. Die Sonne schien auf ihr Gesicht und hinterließ einen rot-orangenen Eindruck hinter den geschlossenen Lidern. Sie hörte Stimmen.
„Sie macht den Eindruck, als käme sie zu sich.“
„Was ist denn passiert?“
„Ich weiß es nicht, ich lief einige Meter hinter ihr und plötzlich klappte sie einfach zusammen.“
Ihre Augen flatterten. Sie sah schattenhafte Gestalten. Je weiter sich ihre Lider öffneten, desto schärfer wurden die Menschen um sie herum. Über ihr gebeugt saß ein junger Mann, nicht viel älter als sie. Er hatte perfektes, schwarzes Haar, zu einem Zopf zusammengebunden. Er sah sie an, mit durchdringenden, braunen Augen. Sie lächelte. Von irgendwo kam ein Teil der Wärme zurück. Und sie fühlte, dass das nichts mit der Wintersonne zu tun hatte.